Der Moment, in dem alles begann, könnte auch aus einem Liebesroman stammen: An einem Tag vor 26 Jahren in Heidelberg musste die damals 33-jährige Kosmetikerin Milena für ihre Chefin einen Stapel Briefe zur Post bringen. Vor dem Postamt glitten ihr die Briefe aus den Händen und landeten auf dem Boden. Es war Leo Stippel, ihr zukünftiger Ehemann, der sie anlächelte, sich bückte und ihr dabei half, die Briefe wieder einzusammeln. "Es war, als würde ich diesen Mann tausend Jahre kennen", erinnert sich Milena Stippel. Was sie erst viel später erfahren sollte: Der charismatische ältere Mann war Schlossbesitzer.
In Garching an der Alz geht das Gerücht um, dass Leo Stippel ein Lottomillionär sei, aber das stimmt nicht. Der heute 86-Jährige hat jeden Cent selbst verdient, den er in die alten Gemäuer gesteckt hat. Er war ein gewiefter Geschäftsmann und ein Workaholic. Nach dem Krieg hatte Leo zusammen mit einem Kompagnon in Göppingen einen Vertrieb für Reifengewichte aufgebaut. Seine Geschäfte führten ihn in den 1960er Jahren vorbei an dem malerischen Schloss Wald, versteckt gelegen inmitten von Bäumen auf dem Walder Hügel. Es war Liebe auf den ersten Blick. Der junge Geschäftsmann wollte es unbedingt besitzen ... Das Schloss stammt aus dem frühen 13. Jahrhundert und markierte einen Salzburger Grenzposten. Grafen und Herzöge residierten in den Mauern, unter anderem Herzog Ferdinand von Bayern, der Onkel von Kurfürst Maximilian. In der Nachkriegszeit gehörte Schloss Wald, den Erzählungen nach, einem Spielzeugfabrikanten. Als dieser verkrachte, fiel es der Bank zu. Als Leo Stippel das Schloss entdeckte, stand es bereits zehn Jahre leer und war in einem bemitleidenswerten Zustand. Leo Stippel erwarb das Gemäuer von der Bank und beauftragte einen Architekten mit der Restaurierung. In Abwesenheit des Bauherrn ließ dieser die vier großen Kachelöfen abbrechen und entsorgen. Leo Stippel blutete das Herz als er dies sah. Fortan achtete er besser auf die Umbaumaßnahmen Es dauerte fünf Jahre, bis Schloss Wald einigermaßen bewohnbar war.
Zurück zu dem Tag, als sich Milena und Leo kennenlernten: "Er war 60 und ich war 33, aber das war mir egal, denn Leo hatte eine Wahnsinnsausstrahlung." Er sei immer angezogen gewesen, als wäre er bettelarm, schmunzelt Milena. "Meine Mutter fragte, nachdem ich ihn ihr vorgestellt hatte, unter welcher Brücke ich diesen Mann gefunden hätte ..."
Ein ganzes Jahr hatten die beiden Liebenden nur Briefkontakt. "Leo hat mir in dieser Zeit 200 Liebesbriefe geschrieben. Ich habe sie alle aufgehoben." Eines hatte er aber immer noch nicht erwähnt, nämlich dass er Schlossherr ist.
"Vor 25 Jahren, kurz bevor ich zu ihm nach Wald gezogen bin, hat er erst gebeichtet, wie er eigentlich wohnt", so Milena Stippel. Nun möchte man erwarten, dass diese Nachricht bei einer jungen Frau einen Freudensprung auslöst, doch Milena Stippel war alles andere als begeistert. "Es war schecklich, als ich das Schloss zum ersten Mal betrat. Leo, der immer sehr sparsam war, hatte nicht eingeheizt. Es war kalt und feucht. Es wirkte alles irgendwie zu groß." Sie werde keinesfalls den Rest ihres Lebens in diesen alten Gemäuern verbringen, erklärte Milena ihrem Ehemann. Das war vor 25 Jahren. Es gab mehrere Versuche, das Schloss zu verkaufen doch es kam nie dazu.
Heute ist ihre große Liebe, ihr Mann Leo, schwer krank und pflegebedürftig. Ein Verkauf kommt momentan nicht in Frage, und so muss Milena Stippel den Unterhalt des Schlosses und den gemeinsamen Lebensunterhalt von ihren Einkünften als selbstständige Kosmetikerin bestreiten.
Milena bewohnt mit ihrem Mann nur einen Teil des fünfstöckigen Schlosses. Die obersten beiden Stockwerke stehen leer. Arbeit gäbe es, wo man hinblickt, doch es fehlt an Mitteln. Aber es muss doch schön sein, in einem Schloss zu wohnen, denkt man als Außenstehender. Alleine die atemberaubende Aussicht über das Alztal, wenn man aus dem Fenster blickt. Die großzügigen, mit Antiquitäten eingerichteten Räume, die Idylle im Schlossgarten bei Vogelgezwitscher und dem Rauschen der Bäume ... "Es ist nicht so, dass ich das Schloss nicht als mein Heim sehe. Ich fühle mich wohl. Aber eines war ich nie und werde ich nie sein: eine Schlossherrin. Manchmal fühle ich mich eher wie eine Schlossgefangene", so Milena Stippel.
Und während andere Menschen davon träumen, in einem Schloss zu leben, träumt die 59-jährige Milena von einer schnuckeligen kleinen Wohnung in Burghausen ...